Wie eindrucksvoll es sein kann, hinter die Fassade von Menschen zu sehen, bewies Andrea Tremolada, Koordinator der Abteilung Flüchtlinge und Einwanderer des Verbandes Volontarius, bei seinem Besuch am 19. Oktober 2016 in der Klasse 3 Gym. Hinter seinem unscheinbaren Äußeren, seiner Gelassenheit, Bescheidenheit und Ruhe verbirgt sich ein Lebensweg, der alles andere als typisch ist für unsere Gesellschaft, in der jeder um sein persönliches Weiterkommen besorgt ist.
Eigentlich interessierte sich Andrea Tremolada nach der Matura für Waffentechnologie. Er begann ein Universitätsstudium, machte dann aber mit 19 Jahren eine Erfahrung, die sein Leben nachhaltig umkrempelte: Unterwegs mit einer Pfadfinder-Gruppe im Kosovo wurde er Zeuge, wie einem kleinen, mit einer Spielzeugpistole bewaffneten Jungen, der arglos einen Berghang hinunter lief, von einem russischen Soldaten das Bein weggeschossen wurde. Tremolada erfuhr am eigenen Leib, was es heißen kann, in einem völlig fremden Land buchstäblich vom Weg abzukommen: Die Pfadfinder verliefen sich, weil sie nicht auf der offiziellen Straße geblieben waren, und stolperten über ein Massengrab, angefüllt mit Opfern des Bürgerkriegs. Nach diesen Erlebnissen wollte er mit seinem Leben etwas wirklich Sinnvolles anfangen und begann die Arbeit bei der gemeinnützigen Organisation.
Volontarius hat sich zur Aufgabe gemacht, Flüchtlingen, die nach Südtirol kommen, Hilfe anzubieten, die drängendsten Fragen zu beantworten, Probleme zu lösen, ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und juristische Hilfestellung zu leisten, wenn sie im Dschungel des Aufnahmeverfahrens nicht weiterwissen.
Laut Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in Artikel 1 der Genfer Konvention von 1951 gilt eine Person als Flüchtling, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will.“
Überraschenderweise erkennt die Genfer Konvention also den überwiegenden Teil der Menschen, die nach Europa immigrieren, nicht als Flüchtlinge an: weder Menschen aus Kriegsgebieten noch solche, die der Armut entkommen wollen.
Volontarius bemüht sich unter Anderem darum, den Ankommenden zu ihrem Recht auf den Flüchtlings-Status zu verhelfen, wenn sie die Bedingungen des Genfer Abkommens erfüllen. Diesen Nachweis zu erbringen, ist aber oft sehr schwer, denn wer hat schon Beweise dafür in der Tasche, dass er z.B. aufgrund seiner politischen Überzeugung verfolgt wurde.
Nur 20% der hier in Südtirol registrierten Flüchtlinge werden anerkannt und dürfen bleiben, der Rest wird abgeschoben – das System, in das sie geraten, gleiche einem Sieb, so Tremolada.
Zunächst wird ein Großteil der Flüchtlinge in sogenannten Hot Spots registriert und zwar unmittelbar dort, wo sie ankommen, z.B. in Lampedusa. Die in den Hot Spots registrierten Flüchtlinge werden dann landesweit auf verschiedene Sammel-Zentren (HUBs) verteilt. Hier warten sie auf ihr Asylverfahren und in dieser Zeit sollte eigentlich schon mehr oder weniger eine erste Integration stattfinden. Nicht immer aber gibt es genügend Plätze in den HUBs, sodass viele Migranten in ein nicht staatliches CAS (Centro d`Accoglienza straordinaria) umgesiedelt werden. Die Privatleute, die ein solches CAS betreiben, erhalten vom Staat Subventionen, weil sie dem Staat Arbeit abnehmen, die er bei dem Ausmaß des Flüchtlingsansturms offensichtlich nicht mehr selbst leisten kann.
Wenn ihr Asylverfahren abgeschlossen ist, dürfen sich die illegalen Flüchtlinge nur noch für kurze Zeit im Land aufhalten. Weil die Abschiebung in Italien aber ein großes logistisches Problem ist, die Migranten deshalb also nicht sofort wieder in ihr Ursprungsland zurückgeschickt werden, landen viele dann auf der Straße, wo sie sich die Parkbänke mit anderen teilen müssen. Ohne Dach über dem Kopf leben zu müssen und nicht zu wissen, wie es weitergeht, bedeutet in manchen Fällen, zum Verrücktwerden verurteilt zu sein. Denn ohne sinnvolle Tätigkeit ist jeder Tag wie der andere, ohne realistische Hoffnung auf Änderung der Lebensbedingungen. Andrea Tremolada berichtete zum Beweis von einem Beispiel aus eigener Anschauung: Ein Mann, den er aus der Zeit seiner Arbeit in Flüchtlingsheimen als ausgeglichen, ruhig und besonnen kannte, drehte nach Entlassung aus dem Heim durch und wurde fünf Mal verhaftet. Tremolada sah ihn bei seiner Gerichtsverhandlung wieder: Er musste mittlerweile Medikamente gegen Schizophrenie einnehmen.
Zur Verdeutlichung seiner Ausführungen über das harte Los vieler Flüchtlinge spielte Tremolada Filme ein, die uns sinnlich vor Augen führen sollten, was ständig im Meer vor unserer italienischen Haustür passiert: Flüchtlingsboote, völlig überfüllt mit erschöpften Menschen, die schließlich kentern und im schlimmsten Fall nicht mehr gerettet werden können, sondern kurz vor dem Ziel ertrinken.
Aber die Klasse war sich einig: Um wirklich zu verstehen, was es heißt, seine Heimat, seine Familie und Freunde verlassen zu müssen und sich ins Unbekannte zu begeben, bedarf es gar keiner Filme mit dramatischer Hintergrundmusik, sondern glaubwürdiger Worte von Menschen wie Tremolada, die sich mit Tatkraft und Sachverstand einer wichtigen Sache widmen und Menschen ernstnehmen, die etwas hinter sich haben, das wir uns noch nicht einmal ansatzweise vorstellen können.
Andrea Tremolada bat uns am Ende seines zweistündigen Besuchs in der Klasse, immer im Kopf zu haben, dass es verführerisch ist, in den Menschen, die hierher kommen, eine anonyme Masse zu sehen und sie alle mit einem einzigen Etikett zu versehen. Verführerisch und einfach – aber falsch.
Es sind einzelne Menschen, die eine interessante, traurige, spannende, ereignisreiche, manchmal sogar lustige Geschichte haben – jedenfalls immer viel mehr in sich tragen als das, was man sieht. Deshalb ist das Interesse für den Einzelnen auch ein Interesse an der Welt. Wir sollten in den Flüchtlingen uns selbst sehen, denn auch sie hatten einmal ein Leben mit Freunden, Familie und einem Zuhause – so wie wir.
Andrea Tremolada drückte das so aus:
„Jeder Mensch hat eine Geschichte hinter sich wie einen Schatten. Fragt danach, denn auch Ihr wollt doch, dass man nach Euch fragt und dass man Eure ganze Geschichte versteht.“
Klasse 3 Gym.